Vernunft über Rekorde: Unseren Gelenken geht es besser. Trotzdem wollen wir nach den Erfahrungen der letzten Tage nichts längerfristig kaputt machen. Daher streichen wir die Pässe Giau und Duran aus der Tour und kürzen die Etappen 4, 5 und 6 auf zwei Etappen zusammen. Etappe 4 bleibt anstrengend, wird uns aber weiter in Richtung Süden bringen. Die letzte Etappe wird länger, jedoch nur noch in der Ebene.

Wir verlassen das Gadertal über den Valparola Pass statt über Campolongo. Letzterer ist als Teil der Sella Ronda deutlich stärker frequentiert. Der Passo Valparola verspricht ruhiger und landschaftlich mindestens genauso reizvoll zu sein.

Schon früh klettert das Quecksilber und kündigt einen heißen Tag an. Der Anstieg zum Valparola läuft dennoch rund. Ein großer Teil der Straße verläuft schattig durch Wald, und nach dem Pausentag genießen wir es, wieder in Bewegung zu sein. In gutem Rhythmus arbeiten wir uns zur Passhöhe. Schon ein gutes Stück vorher finden wir uns von einem traumhaften 360° Panorama umgeben – steile Felswände zur einen, weite Ausblicke auf das zuvor durchfahrene Tal zur anderen Seite.

Als wir an einem rastenden eBiker vorbei strampeln kommt mir ein Gedanke: Wie weit bzw. hoch trägt eine typische Akkuladung, und womit lässt sich die Energie vergleichen? Note to self: Experiment – Eine anstrengende Tagestour einmal mit dem Rennrad und Pulsuhr mit Kalorienmessung fahren und ein zweites Mal mit einem eBike. Welche Menge Spaghetti entsprechen einer Ladung?

Der Valparola Pass geht fast nahtlos in den Falzarego über. Ein kurzes, flaches Stück Straße, eingebettet in schroffe, teilweise noch bewachsene Hänge, verbindet die Passhöhen. Vom Falzarego lassen wir es nach Süden bergab nach Caprile laufen. Nach der fast schon zum Ritual gewordenen Mittagspasta steigen wir wieder in die Sättel. Das Gefälle der Straße bis Agordo wird mehr oder weniger aufgehoben von einem Gegenwind, der uns gefühlt wieder zurück in Richtung Alpenhauptkamm blasen will.

Was heute nur unsere Fahrt verlangsamt, hatte im Herbst letzten Jahres unbändige Ausmaße angenommen. Ein Sturm verwandelte komplette Hänge Bergwald in etwas, das noch jetzt aussieht wie eine Palette ausgekippter Zahnstocherbehälter. Das Ereignis wird die gesamte Region noch lange nachhaltig beeinflussen. In uns bewirkt der Anblick ein tiefes Gefühl der Demut vor der Natur. Erneut ereilt uns die Erkenntnis, dass der Planet uns nicht braucht, wir jedoch andersherum sehr wohl abhängig sind von einem sensiblen Gleichgewicht, auf das unser gemeinsames Verhalten in Summe schwer kalkulierbare Auswirkungen hat.

Von Agordo kämpfen wir uns ein letztes Mal einen längeren Anstieg nach Rivamonte hinauf. Stechende Knie zwingen noch einmal zu einer Pause. Dann machen wir die letzten Höhenmeter und rollen bergab ins Valle del Mis. Eng eingekeilt zwischen steilen Wänden schlängelt sich ein kleiner Fluss und über ihm eine oft nur einspurige Straße, die sich immer wieder in kurzen Tunneln durch den Fels arbeitet.

Am Ende des Tals breitet sich vor uns plötzlich die Ebene aus. Der Anblick des fernen Horizonts ist ungewöhnlich nach mehreren Tagen in einer Welt, in der es oft nur wenige Optionen gibt, seinen aktuellen Aufenthaltsort zu verlassen. Die gängige Frage der Einheimischen „Gute Fahrt! Verlasst Ihr uns über Pass X oder Y?“ zeugt davon, wie gewohnt das Umschlossensein wird.

Kurz vor Feltre verlassen uns spürbar Ausdauer und Motivation. Wir kehren trotz der Nähe zum Etappenziel noch schnell in einer kleinen Straßenbar auf kühle Zuckerdrinks ein, zwingen uns noch einmal in den Sattel, und reißen die letzten Kilometer runter. Dusche, ein hervorragendes Abendessen und willkommene Hängematten auf der Terrasse finden wir im Campo di Cielo, einem „Bio Agriturismo Vegano“. Wir rekapitulieren die Eindrücke des Tages und feiern unser Ankommen.